Stressfaktor Studium? – Universitätspsychologe Wolfgang Wibmer im Gespräch

Veröffentlicht von am 8.07.2016, 15:14 | Kommentar

Stress im Studium _ Mädchen in einer BibliothekLaut einer Studie der Techniker Krankenkasse (2015) leidet die Hälfte der Studierenden regelmäßig unter Stress. Zu den wichtigsten Stressauslösern gehören Prüfungen (52 Prozent), der Lernstoff (28 Prozent) sowie die Doppelbelastung von Uni und Nebenjob (26 Prozent). Rund ein Viertel hat Angst vor schlechten Noten oder davor, keinen Job zu finden (23 Prozent). Jeden fünften plagen finanzielle Sorgen. Depressionen, Ängste, Anpassungs- und Belastungsstörungen sowie körperliche Beschwerden, die sich nicht unbedingt auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen, gehören zu den häufigsten Erkrankungen.

Laut den Ergebnissen der Studie nahmen 4,3 Prozent der Hochschüler psychotherapeutische Hilfe in Anspruch und fast vier Prozent der angehenden Akademiker bekamen Antidepressiva verordnet – das sind fast doppelt so viele als noch 2006.

Ein relativ neuer Stressfaktor sind digitale Medien. Jeder Zweite lässt sich während der Lernphasen von Smartphone und Co. ablenken, was zu verminderter Konzentrationsfähigkeit führt. Für drei Viertel der Befragten hat das Internet Suchtpotenzial.

Wir haben mit Wolfgang Wibmer, dem Universitätspsychologen in Passau über die Situation und die Probleme der Passauer Studierenden sowie mögliche Gründe dafür gesprochen.

ZfS: Würden Sie uns kurz Ihren Werdegang schildern? Wie lange sind Sie schon Psychologe an der Universität Passau?

Wolfgang Wibmer: Ich bin seit 2009 an der Universität Passau tätig und stehe den Studierenden für psychologisch-psychotherapeutische Beratung zur Verfügung. Zuvor habe ich an der Ludwig-Maximilian-Universität München Psychologie studiert und anschließend viele Jahre in der Psycho-Onkologie und Palliativmedizin, welche sich hauptsächlich mit der psychologischen Betreuung von Krebspatienten beschäftigt, gearbeitet. Außerdem war ich für drei Jahre in der Schulpsychologie in Schweden tätig. Meine Fortbildung zum Psychotherapeuten erleichtert es mir zudem, psychische Störungen festzustellen und einzuschätzen. Die Stelle in Passau stellt für mich eine interessante Schnittstelle zwischen Schulpsychologie, Psychiatrie und Psychosomatik dar.

ZfS: Wie lange muss man im Durchschnitt auf einen Termin bei Ihnen warten?

Wibmer: Einen Termin erhalten Studierende im Schnitt nach 4 bis 8 Wochen. Terminanfragen kann ich aufgrund der hohen Nachfrage ausschließlich per Mail beantworten. Je nachdem, was die Hilfe- und Ratsuchenden in ihren Nachrichten schildern, priorisiere ich und vergebe Termine früher, je akuter oder bedrohlicher die Situation ist.

ZfS: Warum kommen die Studierenden zu Ihnen, bzw. was sind die häufigsten Probleme, über die gesprochen wird?

Wibmer: Studierende kommen aus den verschiedensten Gründen zu mir: traumatisierende Kindheitserfahrungen (wie körperlicher oder emotionaler Missbrauch), Essstörungen, Angst, Depression, Zwang, Schizophrenie, Überforderung, Konflikte mit den Eltern, nicht erfüllbare Erwartungen der Eltern, Krankheit oder Tod. Manchmal kommen Studierende auch mit der Sorge um einen ihrer Kommilitonen, der sich psychisch verändert oder akut suizidgefährdet sein könnte. Ein häufiges Problem bei den Beratungsgesprächen ist dabei die Überforderung im Studium auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Einerseits kommen viele, die ein Studium begonnen haben, weil sie überzeugt sind, dass das die logische Konsequenz nach dem Abitur ist. Sie sind allerdings oft nicht zufrieden mit der Wahl ihres Studiums oder finden sich nicht zurecht an der Universität. Andererseits gibt es einige, die ein konkretes (Berufs)Ziel haben, sich aber selbst überfordern mit dem „designen“ ihres Lebenslaufs. Sie machen diverse Praktika, viele ECTS-Punkte pro Semester, mehrere Fremdsprachen, Auslandssemester und engagieren sich außeruniversitär, sind dabei aber unter der Oberfläche manchmal kurz vor einem Zusammenbruch. Hier wäre es wichtig, weniger darauf zu schauen, was ökonomisch „verwertbar“ ist, sondern sich Zeit zu nehmen und darüber nachzudenken, was einen wirklich interessiert und womit man seine Lebenszeit verbringen möchte.

ZfS: Sehen Sie Unterschiede in Bezug auf die Studiengänge?

Wibmer: Ja, da gibt es tatsächlich Unterschiede. Am häufigsten wenden sich Studierende der Kulturwirtschaft, Politikwissenschaft und Jura an mich. Bei den ersten beiden Studiengängen sind es häufig Fragen wie „Was möchte ich später arbeiten?“, „Mache ich genug für mein Studium?“, „Bin ich leistungsfähig genug im Vergleich zu meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die viel mehr zu schaffen scheinen?“. Auch indirekter Konkurrenzdruck macht vielen Studierenden hier in Passau zu schaffen: Der Freund/die Freundin war für sein Praktikum nicht bei einem Landtag, sondern in Brüssel, nicht bei irgendeinem Anwalt, sondern in einer Top-Kanzlei. Vielen Jura-Studierenden macht auch der soziale Druck zu schaffen: „Bin ich noch Jurist, wenn ich im Staatsexamen unter 10 Punkte erreiche und damit nicht zu den Top-Studierenden gehöre?“ Studierende aus der Informatik kommen seltener zu mir und wenn, dann mit familiären/persönlichen Themen. Besonders unter Lehramtsstudierenden, die selten zu mir kommen, scheint es die Angst zu geben, dass sich psychologische Beratung negativ auf eine zukünftige Verbeamtung auswirken könnte. Das ist allerdings ein Mythos und vor allem für den Lehrerberuf, bei dem Reflexionsfähigkeit von großer Bedeutung ist, kann Coaching oder Beratung sehr hilfreich sein.

ZfS: Man hört und liest in den Medien, dass immer mehr junge Menschen Probleme haben, mit Stress umzugehen und darunter leiden. Können Sie diese Entwicklung aus Ihrer Erfahrung an der Universität bestätigen?

Wibmer: Sowohl die hohe Zahl der Anfragen, die ich erhalte, als auch die Tatsache, dass es immer schwieriger wird, Studierende gegebenenfalls an andere Einrichtungen oder an Kolleginnen und Kollegen vor Ort zu vermitteln, zeigt, dass es mehr Bedarf an psychologischer und therapeutischer Beratung gibt. In einer europaweiten Studie zu psychischen und neurologischen Erkrankungen (2011), die von der TU Dresden koordiniert wurde, konnte beispielsweise gezeigt werden, dass rund 21 Prozent der Europäer an Angst- oder Depressionserkrankungen leiden, wobei zweitere in den vergangenen Jahren zugenommen haben.

ZfS: Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Was hat sich verändert?

Wibmer: Ich denke, dass man hier zwei Entwicklungen berücksichtigen muss. Einerseits deutet vieles darauf hin, dass mehr diagnostiziert wird, sei es weil allgemein ein größeres Augenmerk auf bestimmte Erkrankungen oder Störungen gelegt wird, weil Ärzte mehr Schulungen erhalten zu speziellen Themen oder neue Medikamente auf den Markt kommen. Andererseits neigen wir immer mehr zum Wettbewerbsdenken. Internationale Vergleiche und Rankings wie zum Beispiel die PISA-Studie führen dazu, dass Bildungspläne verändert werden und mehr und komplexere Inhalte hinzukommen, um „Defizite“ gegenüber anderen Ländern aufzuholen. Wer dadurch überfordert ist, wird gefördert, mit dem Ziel, den Übertritt aufs Gymnasium zu schaffen und schließlich zu studieren. Nebenbei werden noch diverse Hobbies wie Sport oder Musik gepflegt. Bei dieser starken Leistungs- und Zweckorientierung bleibt wenig Zeit für Selbstreflexion und kreative Langeweile, was dazu führt, dass viele dann nach dem Abitur nicht genau wissen, was sie studieren wollen oder wer sie eigentlich sind. Es ist sehr wichtig, sich vor und während des Studiums Zeit zu nehmen, um Neues zu entdecken sowie in die Tiefe zu gehen, d.h. darüber nachzudenken, wer man ist und was man wirklich möchte.

ZfS: Wie helfen Sie den Studierenden konkret und welche Anlaufstellen gibt es außer Ihnen noch?

Wibmer: Lernberatung, neuropsychologische Tests, IQ-Verfahren, Krisen- und Trauma-Beratung, Psychotherapie und allgemeine Beratung gehören zu meinem Kompetenzbereich. Im persönlichen Gespräch klären wir dann gemeinsam ab, was die Studierenden beschäftigt und ob und welche Therapie am besten in Anspruch genommen werden sollte. Weitere Anlaufstellen sind zum Beispiel die Psychiatrie im Passauer Krankenhaus, ambulante Psychiater und Psychotherapeuten in Passau, die Caritas und andere Sucht- und Beratungsstellen.

ZfS: Sehen Sie auch Handlungsbedarf von Seiten der Universität? Falls ja, inwiefern?

Wibmer: Wenn ich Studierende, die zu mir kommen, frage, was ihr Berufswunsch ist, nennen sie mir oft Großkanzleien, den diplomatischen Dienst oder Großkonzerne. Dort werden allerdings jedes Jahr nur wenige und nur die besten Bewerberinnen bzw. Bewerber ausgewählt. Ein Ansatzpunkt seitens der Universität könnte sein, die Vorbilder, die für Praxisvorträge eingeladen werden, vielseitiger zu wählen, da es ja viele verschiedene Lebensmodelle und Berufsmöglichkeiten gibt. Das heißt, Gastredner von unterschiedlichen Ebenen einzuladen, sozusagen nicht nur aus der Championsleague sondern auch aus der Bezirksliga.

ZfS: Vielen Dank für das Gespräch!

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Dieser Artikel wurde verfasst von Zentrum für Karriere und Kompetenzen.

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